Kommentar der Verbandsspitze im Informationsheft 05/2023

Werte Mitglieder,
werte Landwirtinnen und Landwirte,

taucht man in die politische Diskussion ein, so begegnen dem interessierten Bürger immer mehr wachstumskritische Stimmen, die augenscheinlich die mediale Oberhand gewinnen. Wachstum wird als etwas Negatives angesehen, Nullwachstum der Wirtschaft als erstrebenswertes Ziel proklamiert. Paradoxerweise gehören solche Stimmen oft Interessensgruppen, die seit Jahren strukturell, personell und wirtschaftlich wachsen. In einer Zeit, in der bundesweit eine schleichende Deindustrialisierung mit ihren negativen Folgen voranschreitet, sind solche Forderungen ein Anachronismus und Ausdruck einer eingeschränkten Sicht auf Wirtschaft, Kapitalismus und globale Wertschöpfungsketten. Eine funktionierende, wachsende soziale Marktwirtschaft unter Ausnutzung komparativer Kostenvorteile sorgt erst für die Möglichkeiten der intensiven materiellen Umverteilung und damit die Unterstützung derer, die solcher Hilfen bedürfen.

Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn Bürger wirtschaftlich enthaltsam leben wollen. Problematisch ist hingegen eine politische Entwicklung, wenn die gesamte Welt diesem Weg nachfolgen soll. Wäre das ein vorteilhafter Weg für die Mehrheit, dann ginge das über Anreize und Motivation, nicht über mehr Staat, Kontrolle, Ordnungsrecht bis hin zu Denunziationsportalen.
Große Auswirkungen auf unser Zusammenleben in der Gesellschaft hat die Deutungshoheit von Begriffen. Was genau gemeint ist, mit scheinbar allgemein bekannten Begriffen, ist im Detail oft unklar. Eine kleine Auswahl nicht vielfältig ausdeklinierter, verwendeter Begriffe: Klimakrise, Nachhaltigkeit, Gemeinwohlprämie, Transformation, Ernährungswende, Moorschutz, Degrowth, Mobilitäts­wende, Agrarwende, Stilllegungsflächen als Bio­diversitätsflächen, Bürgerräte, zukunftsfeste Landwirtschaft, öko-soziale Marktwirtschaft und zum guten Abschluss Wärmewende.

Wir begeben uns auf einen Pfad der politischen Einseitigkeit, wenn wir nicht öffentlich und sauber klären, was mit welchem Begriff gemeint ist und welcher Partner was wie deutet. Unreflektiert Begriffe in den politischen Sprachgebrauch zu übernehmen, die irgendwann Allgemeingut werden, wird uns kurzfristig auf die Füße fallen. Da mögen sie noch so charmant und mit Wohlfühlcharakter daherkommen, die dahinterliegende gewünschte Politikausrichtung ist entscheidend.

Nicht wenige Bürger haben die Wahrnehmung, dass es mit der guten alten liberalen Zeit vorbei geht und wir nun auch in sehr schwierigen wirtschaftlichen Fahrwassern ankommen. Notwendig wäre das Aufbauen eines Sicherheitsgefühls, das durch verantwortungsvolle Politik zu organisieren ist. Stattdessen gewinnen Parteiprogramme die Oberhand, und Bürger werden immer mehr verunsichert durch beinahe täglich neue Ideen. Sie nehmen wahr, dass ihre eigene wirtschaftliche Zukunft auf dem Spiel stehen kann, weil politische Projekte auf der Grundlage von Partei­programmen ab­ge­­arbeitet werden – auf Gedeih und Verderb.

Lesen bildet, möchte man zurufen. Nur wer interessiert sich schon für das, was Parteitage inhaltlich beschlossen haben? Vielen ist nicht mehr transparent, aus welchen Gründen diese oder jene Inhalte in Parteiprogramme aufgenommen werden. Es bleibt somit oft bei politischen Erklärungen, die für den Polit-Laien nicht nachvollziehbar sind. Dazu tragen maßgeblich die bereits genannten, unklaren Begriffe bei. Bürger mit wahrer Wendeerfahrung fühlen sich gegenwärtig an die finale Phase der DDR erinnert, und das ist eine gefährliche Erkenntnis. In der Folge wenden sich Bürger von der Politik ab, schlimmstenfalls radikalisieren sie sich. Wobei sogar das ein zu definierender Begriff ist.

Wenn von Klimaklebern Straßen blockiert werden, wird dies medial mehrheitlich goutiert, das plakative Anliegen ist schließlich eine Verkehrswende, eine „nachhaltige Transformation“. Wie diese funktionieren und von allen Bürgen akzeptiert – geschweige denn finanziert – werden soll, bleibt unklar. Ebenso verhält es sich mit den meisten Forderungen an die Landwirtschaft. Eine Agrarwende lässt sich leicht fordern, wenn man fachliche Machbarkeiten und wirtschaftliche Zwänge unter den Worthülsen „zukunftsfest“ und „öko-sozial“ vermeintlich erledigt.

Wir müssen uns als landwirtschaftlicher Sektor mehr mit politischem Sprachgebrauch und Schlagworten befassen, auch wenn sie im Tagesgeschäft auf den Betrieben scheinbar kaum relevant sind. Ignorieren und abtun, als seltsame Ideen oder Wortkreationen anderer gesellschaftlicher Gruppen, gelingt nicht. Es lohnt sich, die eigene Blase zu verlassen und über Visionen und Worte zu streiten, denn die Auswirkungen sind sehr real.

Marcus Rothbart
Hauptgeschäftsführer

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